Deutschland unzureichend auf Extremhitze vorbereitet: „Zehntausende Todesfälle wären vermeidbar“
Berlin - Das zeigt eine neue Analyse der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG), die drastische Versäumnisse in der bundesweiten Hitzevorsorge aufzeigt. Die Warnung der Fachgesellschaft ist eindeutig: Ohne gezielte Maßnahmen könnten in wenigen Tagen Zehntausende Menschen sterben – vermeidbar, wenn rechtzeitig gehandelt würde.
„Wenn keine ausreichenden Vorbereitungen getroffen werden, können bei einem Extremereignis wie einem Hitzedom Zehntausende Todesfälle die Folge sein“, warnt DGG-Präsident Professor Markus Gosch. „Das lässt sich verhindern – wenn wir jetzt reagieren.“
Die Untersuchung zeigt: Besonders ältere Menschen sind durch extreme Hitze gefährdet. Ihre Körper reagieren oft weniger effektiv auf Temperaturveränderungen – unter anderem durch eingeschränkte Temperaturregulation, vermindertes Durstgefühl oder die Wirkung bestimmter Medikamente bei Hitze. Dazu kommen häufige Vorerkrankungen, eingeschränkte Mobilität und kognitive Einschränkungen.
Neben Seniorinnen und Senioren gehören auch andere Gruppen zu den Hochrisikopatient:innen – etwa Menschen mit chronischen körperlichen oder psychischen Erkrankungen, Säuglinge, Kleinkinder, Schwangere sowie im Freien arbeitende Personen und Obdachlose.
Ein zentrales Problem: Extreme Hitze gilt in Deutschland rechtlich nicht als Katastrophe. Dadurch fehlen klare Zuständigkeiten, verbindliche Schutzvorgaben und durchsetzbare Notfallpläne – etwa für Evakuierungen, Beschäftigungsverbote bei Außentätigkeiten oder Urlaubssperren im Gesundheitswesen. Viele Maßnahmen sind freiwillig, nicht gesetzlich geregelt. Auch die Kommunikation mit der Bevölkerung sei oft mangelhaft oder nicht ausreichend koordiniert, kritisieren die Autoren.
„Andere Länder wie Kanada oder Australien mussten bereits tragische Erfahrungen mit Hitzedomen machen – Deutschland hat aus diesen Ereignissen bislang zu wenig gelernt“, sagt Professor Clemens Becker, Leiter der „Unit Digitale Geriatrie“ am Universitätsklinikum Heidelberg und Hauptautor der Analyse.
Die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie fordert deshalb eine entschlossene Neuausrichtung der Hitzevorsorge in Deutschland. Im Mittelpunkt steht dabei die präventive Vorbereitung – nicht bloß reaktive Krisenbewältigung. Ihre zentralen Forderungen:
Extreme Hitzeereignisse als Naturkatastrophen definieren
Bestehende Hitzeaktionspläne überarbeiten und auf Extremereignisse wie Hitzedome ausweiten
Krisenstäbe in Städten und Kommunen einrichten
Notaufnahmen auf stark steigende Patientenzahlen vorbereiten
Datenabgleich zwischen Kranken- und Pflegekassen zur Ermittlung gefährdeter Personen
Mobile Einsatzteams für besonders verletzliche Gruppen etablieren
Gekühlte öffentliche Räume kennzeichnen und öffnen
Evakuierungspläne für stark betroffene Stadtteile erstellen
Temporäre Beschäftigungsverbote bei Außentätigkeiten ermöglichen
Laienhelfer:innen der Hilfsorganisationen aktivieren
„Wir müssen in der Altersmedizin eine aktive Rolle übernehmen und in alle Versorgungsstrukturen eingebunden sein“, fordert DGG-Präsident Gosch.
Was ein Hitzedom anrichten kann, zeigen Ereignisse der vergangenen Jahre: In Vancouver (Kanada) starben im Sommer 2021 während einer fast zweiwöchigen Extremhitzewelle mit Temperaturen bis zu 49 Grad Hunderte Menschen. In den USA, Indien, Saudi-Arabien oder Australien gab es ähnliche Entwicklungen mit Temperaturen weit über 40 Grad – teils über Wochen oder Monate.
Auch Deutschland hat Erfahrungen: Im Sommer 2003 starben hierzulande schätzungsweise 7.600 Menschen an den Folgen einer Hitzewelle. Dennoch gibt es heute nur in etwa 25 von mehreren Tausend Kommunen überhaupt Hitzeaktionspläne – und diese decken Extremereignisse wie einen Hitzedom kaum ab.
„Die Mehrheit der Bevölkerung unterschätzt das Risiko. Weniger als 20 Prozent sehen den Klimawandel als vorrangiges Problem“, so Becker. „Und genau das spiegelt sich auch in der politischen Untätigkeit wider.“
Weitere Info:
Die vollständige Analyse „Hitzedom in Deutschland und wie gut wir darauf vorbereitet sind“ von Professor Clemens Becker (Uniklinikum Heidelberg), Dr. Thomas Griebe (Stadt Duisburg, Umweltamt) und Dr. Christian Weingart (Krankenhaus Barmherzige Brüder, Nephrologie) wurde in der Zeitschrift für Geriatrie und Gerontologie veröffentlicht.