Der Drang zur Deregulierung unseres Agrar- und Lebensmittelsystems
Die Abgeordneten entscheiden über das sogenannte „CAP-Vereinfachungspaket“, einen Vorschlag der EU-Kommission zur Änderung der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). Was als technischer Schritt zur „Bürokratievereinfachung“ präsentiert wird, könnte sich in Wahrheit als massiver Rückschritt für Umwelt, Natur und bäuerliche Planungssicherheit erweisen.
Laut Kritikern verfolgt die Kommission mit ihrem Vorschlag keineswegs eine bloße Entlastung der Landwirte, sondern einen weitreichenden Abbau zentraler Umweltauflagen – ohne Umweltverträglichkeitsprüfung, Folgenabschätzung oder ausreichende öffentliche Konsultation.
Besonders brisant: Der Agrarausschuss (AGRI) des Parlaments hat am 24. September Änderungsanträge beschlossen, die über den Kommissionsvorschlag hinausgehen und den Schutz von Böden, Ökosystemen und Natura-2000-Gebieten drastisch schwächen würden.
So sollen Landwirte auf geschützten Flächen künftig automatisch als umweltkonform gelten, auch wenn sie dort schädliche Bewirtschaftungspraktiken anwenden. Gleichzeitig würden wichtige Mindeststandards gestrichen, etwa:
die Verpflichtung zu Maßnahmen gegen Bodenerosion (GAEC 5),
der Schutz von wertvollen Grünlandflächen in Natura-2000-Gebieten (GAEC 9).
Damit droht ein Freibrief für umweltbelastende Landwirtschaft – mitten in Schutzgebieten, von denen bereits 80 % in schlechtem oder sehr schlechtem Erhaltungszustand sind.
Neben den ökologischen Risiken warnen Experten vor den Folgen für die Landwirte selbst. Schon jetzt leidet der Agrarsektor unter ständigen und undurchsichtigen Regeländerungen, die langfristige Planung fast unmöglich machen. Das nun anstehende Paket wäre bereits die zweite tiefgreifende GAP-Reform innerhalb eines Jahres - mit entsprechend hoher Unsicherheit für Betriebe.
Zudem kritisieren Umweltorganisationen und Beobachter den Mangel an Transparenz und demokratischer Kontrolle. Der Prozess finde weitgehend ohne öffentliche Debatte, wissenschaftliche Grundlage oder geregelte Verfahren statt. Die Folge: Ein Verlust an Vertrauen in die politischen Institutionen – und am Ende Reformen, die weder Landwirten noch der Umwelt helfen.
Mit der bevorstehenden Abstimmung steht das Europäische Parlament vor einer Grundsatzfrage:
Will es den Weg in Richtung nachhaltiger Landwirtschaft und ökologischer Stabilität weitergehen – oder unter dem Deckmantel der „Vereinfachung“ jene Schutzmechanismen aufgeben, die Europas Umwelt und Ernährungssysteme über Jahrzehnte gesichert haben?
Die Abstimmung ist richtungsweisend. Sollte das Parlament die Schwächung der Umweltstandards absegnen, liegt es anschließend an den Mitgliedstaaten in den Trilogverhandlungen, den drohenden Rückschritt zu stoppen.
Das aktuelle Vorhaben ist Teil einer breiteren Deregulierungswelle in der EU. Unter dem Label der „Omnibus-Gesetzgebung“ will die Kommission seit Monaten komplexe Rechtsvorschriften – von Landwirtschaft über Klima bis Digitalisierung – „vereinfachen“. Kritiker sprechen dagegen von einer systematischen Aushöhlung zentraler Schutzgesetze.
Bereits im Frühjahr 2024 wurden im Schnellverfahren mehrere Umweltauflagen aus der GAP gestrichen – ohne öffentliche Anhörung oder fundierte Analyse. Nun droht die Fortsetzung dieses Kurses.
Hinter dem Begriff „Vereinfachung“ verbirgt sich damit nicht weniger als ein Paradigmenwechsel: weg von transparenten, evidenzbasierten Prozessen – hin zu politisch opportunen Schnellmaßnahmen.
Fazit: Was als technisches Anpassungspaket daherkommt, könnte sich als einer der größten Rückschritte der europäischen Umweltpolitik seit Jahren erweisen. Anstatt Landwirte zu entlasten, droht der Vorschlag, ihre Zukunftsplanung weiter zu verkomplizieren – und gleichzeitig den Schutz von Böden, Wasser und Artenvielfalt preiszugeben.
Am 8. Oktober entscheidet das Europäische Parlament, ob Europa seinen Kurs in Richtung nachhaltiger Landwirtschaft fortsetzt – oder unter dem Deckmantel der „Vereinfachung“ den Weg in eine Deregulierungsfalle einschlägt.