© DSM / Prof. Dr. Sunhild Kleingärtner, Geschäftsführende Direktorin des DSM
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Greta Thunbergs Atlantik-Überquerung: Die Wiederentdeckung der Unberechenbarkeit

Prof. Dr. Sunhild Kleingärtner, Geschäftsführende Direktorin des Deutschen Schifffahrtsmuseums (DSM) / Leibniz-Institut für Maritime Geschichte, über Greta Thunbergs Fahrt über den Atlantik.

Greta Thunberg reist mit einer Hochsee-Segelyacht über den Atlantik. Ungefähr zwei Wochen wird ihre Überfahrt dauern. Im Erstaunen über die ungewöhnliche Reise zeigt sich auch unser gewandeltes Verständnis von Mobilität auf den Weltmeeren.

Man kann weite Teile der Schifffahrtsgeschichte als eine Kampfgeschichte verstehen. Als eine fortwährende Auseinandersetzung des Menschen mit den Urgewalten des Meeres. Mit Schifffahrt war und ist der Versuch verbunden, dem Meer etwas abzutrotzen. Sei es der Weg zu weit entfernten Ländern, seien es Handelsrouten, wissenschaftliche Erkenntnisse, Fisch, oder in jüngerer Zeit auch Öl oder Standorte für Windkrafträder.

Über Jahrtausende hinweg war der Wind dabei die einzige Antriebskraft. Von ihm war es abhängig, wie die Fahrt verlief. Ruhig, turbulent, oder gar lebensgefährlich. Wann man ankam, wusste der Wind. Erst mit der Industrialisierung und der Dampfschifffahrt wurden die Reisen im 19. Jahrhundert planbarer, detaillierte Seekarten wichen den Segelanweisungen, Auswanderung und Seetourismus nahmen ihren Anfang. Gezeitenrechner wurden - als eine Art analoge Computer - im 1. Weltkrieg zu strategisch wichtigen Informationsquellen. Heute hat jede Kreuzfahrt ihren minutiös geplanten Ablauf, jeder große Hafen seine eng getakteten Liegezeiten. Jede Verspätung wird als Normabweichung empfunden – und allenfalls Routenänderungen infolge schwerer Unwetter erinnern uns als Passagiere daran, dass wir bei all unseren Reiseplänen von Naturgewalten abhängig sind.

So gesehen ist die MALIZIA II ein äußerst passendes Schiff für Greta Thunberg und ihren Einsatz für den Klimaschutz. Denn es ist das Verdienst der „Fridays for Future“-Bewegung, eine ebenso simple wie unbequeme Tatsache wieder stärker ins gesellschaftliche Bewusstsein gerückt zu haben: Wir sind abhängig von der Natur – auch wenn wir dies in unserem hochtechnologisierten Alltag oft verdrängen. Dass die Jugendlichen, die für den Klimaschutz seit Monaten auf die Straße gehen, nicht nur viel Zustimmung erfahren, sondern für manche Menschen zu einem regelrechten Feindbild geworden sind, hängt offensichtlich auch damit zusammen, dass der Protest neben politischem Handeln auch vertraute Lebens- und Konsumgewohnheiten infrage stellt.

Doch wer hier sogleich einen Angriff auf Freiheitsrechte wittert, sollte sich klarmachen, dass der Klimawandel weitaus größere Freiheitseinschränkungen mit sich bringen könnte. Die Industrialisierung hat Mobilität planbarer gemacht – doch die Folgen der Emissionen für unser Leben sind alles andere als planbar. Anders gesagt: Greta Thunbergs Überfahrt mag turbulent verlaufen – doch das ist nichts gegen die Turbulenzen, vor denen sie warnt.



Prof. Dr. Sunhild Kleingärtner (44) ist seit 2013 Geschäftsführende Direktorin des Deutschen Schifffahrtmuseums (DSM) / Leibniz-Institut für Maritime Geschichte in Bremerhaven. Zu ihren Forschungsgebieten gehören die Maritime Archäologie mit Schwerpunkt in der Wikingerzeit sowie die Gefährdung von Schiffwracks aus 20. Jahrhundert und die damit verbundenen Umweltgefahren. An der Universität Bremen lehrt Kleingärtner Schifffahrtsgeschichte und Maritime Archäologie und ist außerdem Lehrbeauftragte an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg für den Masterstudiengang Museum und Ausstellung.


Artikel Online geschaltet von: / Doris Holler /