© realworkhard Rald Kunze- pixabay.com/  Uhr
© realworkhard Rald Kunze- pixabay.com/ Uhr

Die Sommerzeit aus Sicht der chronobiologischen Medizin

Die Zeit, so wie es die Diktion vorgaukelt, können wir gar nicht umstellen, da sie allein von der Erdumdrehung, vom Sonnenstand definiert wird.

Die Einführung der sogenannten Sommerzeit ist daher nichts anderes als ein öffentlicher Beschluss, dass alle Bürger für sieben Monate eine Stunde früher zur Arbeit oder zur Schule gehen müssen. Einen solchen Beschluss würden die wenigsten Bürger akzeptieren, da aber gleichzeitig die Uhren umgestellt werden, ist den wenigsten dieser Sachverhalt bewusst. Auch wenn dies nicht die ursprüngliche Intention der Sommerzeit war, kann die derzeitige Situation dennoch genau so beschrieben werden – und das liegt vor allem an unserer biologischen Uhr, an unserer 'Innenzeit'.

Alle biologischen Vorgänge in uns werden von einer inneren Tagesuhr mit dem 24-Stunden Rhythmus der Erde abgestimmt. Diese innere oder biologische Uhr sorgt auch für die Abstimmung der einzelnen Vorgänge im Körper untereinander. Wenn diese Abstimmung nicht optimal verlaufen kann, werden wir mit höherer Wahrscheinlichkeit krank. Diese wichtige biologische Innenzeit kann zwar von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich sein (sprichwörtlich von den Lerchen bis Eulen), aber auch die individuelle
Zeit der biologischen Uhr wird nur von der Sonnenzeit und nicht von der Wanduhr gestellt.

Unsere inneren Uhren sind – im Vergleich zu unseren Vorfahren – sehr spät dran. Dies liegt an unserem Lichtverhalten. Während Menschen früher tagsüber viel draußen waren und nachts vor allem im Dunkeln lebten, sind wir heute fast ausschließlich in Gebäuden (in denen die Lichtintensitäten um den Faktor 1.000 niedriger sind als draußen) und schalten nach Sonnenuntergang künstliches Licht an. Dadurch haben wir die Signale (Zeitgeber), die unsere biologische Uhr stellen, stark abgeschwächt. Damit sich die inneren Uhren unter diesen Bedingungen überhaupt noch mit dem 24-Stunden Tag synchronisieren können, mussten sie gegenüber dem Licht-Dunkel-Wechsel später werden. Diejenigen Menschen, deren biologischen Uhren sich unter diesen Umstanden nicht mehr mit 24 Stunden synchronisieren, werden immer häufiger. Die Biologie dieser Menschen läuft mit einem Tagesrhythmus von ca. 25 Stunden durch unsere Zeitstrukturen hindurch. Obwohl diese Menschen sehen können, verhält sich ihre innere Uhr wie die gänzlich blinder Menschen.

Trotz dieser drastischen Veränderungen auf unserer biologischen Zeitebene, haben sich die sozialen Zeiten nur wenig geändert, so dass wir alle zu spät einschlafen (unter der Kontrolle der inneren Uhr) und zu früh aufwachen (unter der Kontrolle des Weckers). Wir häufen so unter der Arbeitswoche ein großes Schlafdefizit an, das wir an Wochenenden auszugleichen versuchen. Diese Situation haben wir den “sozialen Jetlag” genannt – unser Körper lebt in einer Zeitzone, unsere Verpflichtungen in einer anderen. Die derzeitige Sommerzeit-Regelung verlegt nun unsere sozialen Verpflichtungen einfach noch eine Zeitzone weiter nach Osten, ohne dass wir dabei unsere biologische Zeitzone verlassen. Wir arbeiten sozusagen den Sommer über in Moskau, leben aber eigentlich in Köln oder München.

Die Sommerzeit sattelt also für sieben Monate bei den meisten Menschen eine weitere Stunde auf den bereits bestehenden sozialen Jetlag drauf. Je größer der Unterschied zwischen unserer biologischen und unserer sozialen Zeitzone, je größer der soziale Jetlag, desto größer die Chancen krank zu werden, von metabolischen bis hin zu psychiatrischen Problemen. Die Kosten, die sich aus diesem Leben gegen die innere Uhr und aus Schlafproblemen ergeben, werden laut einer kürzlich veröffentlichten Studie in
Deutschland auf fast 60 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt – fast doppelt so groß wie unser derzeitiger Verteidigungsetat. Überlegungen für oder gegen die Uhrenumstellung beschäftigen sich verständlicherweise meist mit der Umstellung an sich und suchen Wege, diese zu vermeiden. Es geht jedoch aus chronobiologischer und medizinischer Sicht gar nicht um die zweimalige Umstellung, sondern allein um den Zeitraum in dem wir gezwungen werden, in einer fremden Zeitzone zu leben (ohne uns – wie bei wirklichen Reisen in andere Zeitzonen – an diese anpassen zu können). Daher ist die “Lösung”, die Umstellungen durch eine ganzjährige Sommerzeit zu vermeiden, besonders kontraproduktiv. Wir sollten den chronobiologischen Stress nicht verdoppeln sondern schlicht abschaffen.

All diese Zusammenhänge lassen sich durch begutachtete wissenschaftliche Literatur untermauern. Solange Politiker diese Zusammenhänge jedoch nicht kennen oder begreifen, werden sie mit hoher Wahrscheinlichkeit falsche Vorschläge machen und unterstützen.


Prof. Dr. Till Roenneberg


Artikel Online geschaltet von: / Doris Holler /